2. Entscheide dich, zu leben

 

Als Studentin der Germanistik muss ich immer wieder an den bereits erwähnten an den alten Faust denken. Und an Aristoteles. Manchmal scheint es mir nämlich so, als wisse ich lediglich, dass ich eigentlich nichts weiß. Und das trotz all der Bücher die ich lese, der Menschen die ich treffe und der Dinge die ich lerne, fühle ich mich unwissender und   unbedeutender als je zuvor. Und dann frage ich mich immer wieder, an was ich eigentlich glauben soll. 


Manchmal tendiere ich zum Glauben an eine überirdische Macht, die uns aus unserem Dilemma zum guten Lebens führt, manchmal an Karma, das uns alles Gute und Schlechte zurückbringt, manchmal sogar an die Macht der Wissenschaft. Doch meistens ist es ganz simpel. Ich glaube an mich selbst. Ich glaube an meine eigenen Fähigkeiten, meine Motivationen, meine scheinbar unendlichen Möglichkeiten

 

Auf einem Planeten voller Menschen, mit unendlich vielen Gedanken über immer komplexer werdender Sachverhalte, immer kontrovers werdender Fragen an unsere Gesellschaft, unsere Umwelt und dem eigenen Leben, stellt sich doch die letztlich nur die eine Frage: wohin führt uns das alles? 

Wir leben heute in einer Welt, die besser entwickelt ist als je zu vor. Wir Menschen haben eine globalisierte Welt erschaffen, in der wir Flüge buchen, die immer höher fliegen und in der wir uns Autos kaufen, die immer schnell fahren. Wir leben in größeren Häusern, haben bessere Jobs, verdienen immer mehr Geld. Wir führen ein Leben in Wohlstand. Und doch scheint uns immer etwas zu fehlen. Mit der Entwicklung des sogenannten westlichen Standards ist parallel auch eine Entwicklung einer immer größer werdenden Sehnsucht zu beobachten.

Wir müssen uns stets Gedanken darüber machen, was am Ende übrig bleibt. Um unseren Lebensstandard zu halten. Wir messen unsere Lebensqualität in Zahlen.
Die Zahl, die am Ende des Monats übrig bleibt, die Anzahl an Dingen die wir besitzen, oder auch der Anzahl an Menschen denen das gefällt. Es scheint unmöglich aus diesem Kreislauf herauszukommen, denn natürlich müssen wir arbeiten gehen um Geld zu verdienen, Geld verdienen, um uns Dinge leisten zu können, und Dinge besitzen um glücklich zu sein.  

 

Doch stimmt das? 

 

Sind wir wirklich glücklicher, wenn wir in einer Wohnung leben, die 100m2 hat, wenn wir ein Auto fahren, dass 260PS besitzt, oder einen Pullover tragen, auf dem irgendein Logo prangt? Oder beugen wir uns damit lediglich dem Bild, dass uns die Gesellschaft uns vorgibt?
Erscheint es nicht paradox, dass wir immer länger Arbeiten, um uns Dinge zu kaufen, die unser Leben besser machen sollen, jedoch keine Zeit mehr haben, diese zu genießen. Dass wir Dinge anhäufen, unserer Wohnungen immer voller werden, wir uns jedoch immer leerer fühlen. Dass wir unser Glück nach Maßstäben definieren, die uns andere vorgeben. Denn wer sagt uns, was richtig und was falsch ist?

 

An dieser Stelle möchte ich ein bisschen von mir erzählen. Vor nicht ein Mal drei Jahren war ich an einem Punkt in meinem noch jungen Leben, der mich innehalten lies.

Ich hatte gerade eine schwierige Beziehung beendet, hatte die letzte Klausurenphase erfolgreich hinter mich gebracht, feierte ausgelassen mit meinen Freunden, ging arbeiten und lebte das scheinbar perfekte Leben im Kreise meiner Freunde und Familie. Und trotzdem war ich nicht glücklich.

Ja, ich würde heute sogar sagen, dass ich mich richtig elend fühlte. Ja sogar, dass ich unglücklich war.

Und trotzdem änderte ich nichts an meiner Situation, ich lebte meinen Alltag einfach so weiter. Bis zu dem einen Tag, an dem ich eine scheinbar unbedeutende Mail in meinem Postfach entdeckte (womöglich ein Wink des Schicksals? Wer weiß das schon), eine Ausschreibung für ein Praktikum in Indien. Dort suchten sie Studenten und Studentinnen, die für vier Monate im Norden Indiens, an der größten Schule der Welt, Deutsch unterrichten wollten.
Ich schmunzelte, als ich die Ausschreibung das erste Mal las. Die Leute würden mich für verrückt erklären, dachte ich damals. Und als ich mich bewarb und nur wenige Wochen später meine Zusage hatte, taten sie das auch. 

 

Niemand konnte verstehen, warum ich dort hin gehen wollte. Warum ich mein so reibungsloses Leben verlassen und mich auf eine Reise begeben wollte, bei der alles ungewiss war. Ich konnte es ihnen nicht sagen, aber mich trieb die Herausforderung. Vielleicht sogar die Aussicht darauf, zu scheitern.
Mein Leben war in meinen ersten zwanzig Lebensjahren so reibungslos verlaufen, dass ich mich danach sehnte, an Herausforderungen zu wachsen und aus Fehlern zu lernen. Ich wollte etwas erleben, dass mich aus meiner Unzufriedenheit, aus meinem Alltags-Koma herausholte. Also flog ich und lies alles hinter mir.


Ich kann mich noch genau an den Moment, im Flugzeug auf dem Weg nach Delhi erinnern, als ich mich das erste Mal so richtig mit mir selbst auseinandersetze. In gewisser Weise suchte ich in diesem Moment das erste Mal das Gespräch mit mir selbst. Nun lässt du alles hinter dir, du steigst mit offenen Augen, einem offenen Herzen und ganz unvoreingenommen aus diesem Flieger, du lässt es auf dich zukommen. Das sagte ich mir wieder und immer wieder. Und das tat ich.


Rückblickend hat mich meine Zeit in Indien vieles gelehrt. Reise nie nach Indien, ohne vorher zu wissen wo du unterkommst, vertraue keinem indischen Wanna-be-Deutschlehrer, der vorgibt „Deutsch“ zu sein, nehme nie an, du erträgst die Schärfe des Essens ohne Weiteres (denn irgendwann kommen sie immer, diese Chillis, die wirklich scharfen Chillis) und gewöhne dich an den Gedanken, dass du mit deiner weißen Haut, den blonden Haaren und den blauen Augen nahezu als Popstar gehandelt wirst.


Natürlich habe ich dort oft mit mir selbst gerungen, ob ich mit den dortigen Standards klar komme. Ob ich mit den Armeisen in der Küche, den Moskitos im Schlafzimmer und den verstümmelten Hunden und abgemagerten Kühen auf der Straße klarkomme. Ob ich das Essen vertrage, mit so viel Zucker, dass die Pickel geradezu sprießen, ob ich mit einem Chef umgehen kann, der mich anschreit und schikaniert, der dauerhaften Hitze, dem ständigen Lärm, den intensiven Gerüchen.
Doch ich habe es nicht nur gemeistert, ich bin daran gewachsen. Die Zeit in Indien hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. Einem Menschen, der zufrieden ist, mit dem, was er hat. Heute bin ich ein Mensch, der Wert auf seine Umwelt legt, der freie Bildung als wichtigstes Gut unsere Gesellschaft betrachtet, der genügsam ist, der sich seiner privilegierten Perspektive bewusst ist. Die Zeit in Indien hat mich nachhaltig geprägt und zu dem gemacht, was ich heute bin.


Und doch bin ich noch lange nicht fertig mit mir. Denn auch heute, knapp drei Jahre später, weiß ich noch nicht genau, wer ich bin. Ich habe natürlich eine Vorstellung von dem, was ich erreichen und was ich sein will, aber auch heute habe ich noch so viele Optionen, die mich beeinflussen. 

 


An dieser Stelle muss ich an die Frage denken, die ich irgendwo ein mal aufgeschnappt habe: Woher wissen wir, was wir uns wünschen, wenn wir nicht wissen, wie wir uns wünschen?

Woher sollen wir wissen, dass wir ein guter Bankgestellter und nicht ein viel besserer Bäckermeister sind. Dass wir eine erfolgreiche Kauffrau und nicht besser Mutter von sieben Kindern sind.
Die Antwort darauf lautet: wir können es nie wissen. Doch wir können uns ausprobieren. Wir können unsere Optionen ausloten, wir können hinterfragen, reflektieren und beurteilen. Wir können leben, entdecken, lernen.
Doch wir müssen Entscheidungen treffen. Immer und immer wieder. Wir müssen unsere Wünsche formulieren und uns Ziele setzten, nur dann können wir etwas erleben, uns kennenlernen und herausfinden, was wir wollen.

Doch was machen wir, wenn wir keine Entscheidungen treffen wollen?
Viele Menschen fliehen. Sie verreisen, fahren in den Urlaub, legen hunderte von Kilometern zurück, um den Zuhause anstehenden Entscheidungen zu entfliehen.
Und dann machen sie dann Urlaub in einem möglichst weit entfernten, fremden Land, um so weit weg wie nur möglich von Zuhause zu sein und suchen sich dort dann trotzdem das Lokal aus, das sie an den Lieblingsitaliener in der Heimat erinnert. 

 

Wir lesen unzählige Bücher über fiktive Figuren, die ihre Ängste überwinden, die dem gesellschaftlichen Druck trotzen und zu Helden werden, schaffen es aber selbst nicht, über deinen eigenen Schatten zu springen und unsere Wünsche zu verfolgen.
Wir scheitern daran, selbst Helden zu werden.
Stattdessen geben wir uns mit Dingen zufrieden, die uns nur begrenzt glücklich machen, um nicht zu riskieren, etwas Neues auszuprobieren, dass uns unglücklich machen könnte. 

Weil wir Angst davor haben, zu scheitern. Nicht an einer Beziehung, unserem Platz in der Gesellschaft, nicht an einem bestimmten Projekt, sondern an uns selbst. 

Weil wir Angst davor haben, den vertrauten Weg zu verlassen. Obwohl wir genau wissen, dass an der nächsten Abzweigung etwas warten könnte, dass all unsere Vorstellungskraft übersteigt. Dass wir dort irgendetwas oder irgendjemandem begegnen könnten, das oder der besser ist, als das vermeintliche Ziel unseres Weges. 

 

Denn nähme man nur ein mal an, ich hätte mich anders entschieden, ich wäre nicht nach Indien geflogen, hätte anstatt dessen den Mann meiner Träume getroffen und wäre inzwischen bereits verlobt und hätte meinen Bachelor in der Tasche. Wäre das nicht viel besser, sinnvoller, einfacher? Könnte ich mir dann nicht das ganze Herumgereise und die Suche nach mir selbst sparen? Wäre ich ich nicht glücklicher?

Vermutlich nicht.

Denn meine Reise hat mich auch mit all den Hürden, Hindernissen und den Konsequenten zu einem glücklichen Menschen gemacht. Und auch mein immer noch andauernder Weg macht mich immer wieder auf's Neue zu einem Menschen, der weiß was er will, der weiß wofür er einsteht.
Der Umgang mit unserer Umwelt, meine Berufswunsch der Lehrerin, die Wertschätzung meines Lebensstandards, als dass hat mich Indien gelehrt. Ohne diesen Umweg, wäre ich heute womöglich an einem ganz anderen Punkt. Und vermutlich nicht so glücklich, wie ich es jetzt gerade bin. 

 

Ich möchte mit meinem Beispiel keineswegs den „gewöhnlichen“ Weg in Frage stellen, ich möchte lediglich darauf aufmerksam machen, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt. Dass wir alle unseren eigenen Weg finden müssen, der uns glücklich macht. 

 

Denn die eigentlich Frage, die wir uns beim Treffen von Entscheidungen stellen sollten, lautet doch: was, wenn nicht?
Wir sind, ganz im kantischen Sinne, vernunftbestimmte Wesen, die zu jedem Zeitpunkt dazu fähig sind, uns selbst zu reflektieren. Und jeder Tag, jede Entscheidung, die wir treffen, gibt uns Anlass unsere eigenen Wünsche, Träume und Ziele zu hinterfragen.
Und auch wenn nicht jede Entscheidung einem roten Faden folgt und logische Konsequenzen nach sich zieht, sollten wir uns trotzdem bewusst darüber sein, was wir uns von dieser Entscheidung erhoffen. Denn nur, wer sich bewusste Ziele setzt, kann diese auch erreichen. 

 

Und wer kennt es nicht, dieses unglaublich befreiende und zugleich befriedigende Gefühl ein Ziel erreicht zu haben?
Der Moment, in den man sich selbst beweist, dass man in der Lage ist, Wünsche und Träume nicht nur in einen luftleeren Raum zu formulieren und in Zukunftsvisionen zu schwelgen, sondern diese tatsächlich in die Realität transferieren zu können.

 

Wahrscheinlich sind es genau solche Erfolgserlebnisse, die uns den Glauben an uns selbst, an die eigenen Fähigkeiten, aber auch den Glauben an Veränderung zurückgeben.
Denn jeder Weg, der zu einer Veränderung führt, bedarf nicht nur Durchhaltevermögen, einem starken Willen und Begeisterung für die Sache, sondern auch dem Mut und der Motivation, sich ein Ziel zu setzen, dass oft so verrückt erscheint, wie meine Reise nach Indien. 

 


Wir brauchen ein Ziel, um an unseren eigenen Aufgaben wachsen zu können. Und möglicherweise auch ein Mal zu scheitern. Denn richtig Scheitern ist nicht nur für das eigene (oft so übermächtige) Ego, sondern auch für die Richtung, in die uns unser Leben führt, von großer Bedeutung.

Jede Entscheidung führt uns in eine neue Richtung, sei sie bewusst oder unbewusst getroffen. Egal welche Ziele wir uns setzen, unser Weg wird niemals eine gerade Strecke sein, sondern er wird immer über Umwege und Stolpersteine führen, die uns womöglich an einen Ort bringen, den wir zu Beginn nicht erwartet haben. Wichtig ist es dabei, Entscheidungen treffen zu können, um nicht stehen zu bleiben. Nur dann können wir ankommen. Wo immer das auch sein mag. 

 

Also lasst uns Ziele setzten, unseren Visionen folgen, unsere Träume leben und an den Herausforderung wachsen, die unser Weg bereit hält.
Ich bin mir sicher, es wird sich auszahlen. 

 

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